Kurzbiografie durch Lorenz Anzinger

Martin Anzinger, der sein ganzes Leben im Chiemgau verbrachte, hat die Landschaft und ihre Menschen so wirklichkeitsgetreu gemalt wie kaum einer vor ihm. Mit dem Fahrrad, den Rucksack auf dem Rücken, fuhr er zum Chiemsee, durchstreifte die Landschaft, stieg über Bäche und Zäune, immer auf der Suche nach dem besten Blick. Er malte die Dörfer und Moore, den Simssee und abends kam er zurück, das fertige Bild außen an den Rucksack gebunden, damit die noch frischen Farben nicht verwischten und jeder konnte sehen, wo er gewesen war. Er arbeitete sehr schnell, zeichnete mit nur wenigen Strichen sein Motiv auf die Leinwand und manch Bild ist in nur sechs Stunden entstanden, das Bild „Monika" sogar in nur einer Stunde.

Martin Anzinger kam am 15. Juli 1905 in der Einöde Friedenslinde bei Halfing zur Welt als letztes von vier Kindern des Bauunternehmers Lorenz Anzinger und seiner Frau Ursula Bader aus Unterwindering, deren Bruder einer der engsten Freunde von Kronprinz Rupprecht von Bayem war und als Hauptmann im Bayerischen Heer diente. Schon in der frühen Kindheit fing er an, alles zu zeichnen, was er in Lesebüchern, in der Bibel und auf Postkarten fand. In Halfing besuchte er die Volksschule, wo seinem Lehrer schon früh das ungewöhnliche Zeichentalent des Schülers auffiel und oft holte er ihn deshalb zum Vorzeichnen an die Tafel. Legende sind aber auch die vielen Streiche des aufgeweckten Buben und die Karikaturen seiner Lehrer, die er an die Tafel malte. Zuhause zeichnete und malte er alles, was ihm unter die Augen kam bis ihm jemand sagte, er sollte besser nach der Natur zeichnen; da bildete er einen Bierkrug, die Nähmaschine seiner Mutter und ein Fliegenglas ab.

Auf Anraten seines Lehrers schickten die Eltern den Dreizehnjährigen zu dem bekannten Kirchenmaler Professor Scheppach nach München, der seine Fähigkeiten sofort erkannte und ihn als Schüler nahm. Schon bald aber musste er die Lehre wieder abbrechen, da er durch die Lebensmittelknappheit, die nach dem 1. Weltkrieg in München herrschte, nach seinen eigenen Worten buchstäblich verhungert wäre. Wieder zuhause erlernte er bei seinem Vater das Maurerhandwerk, wobei er oft auch bei den umliegenden Bauernhöfen zu tun hatte und damit zu manch guter Brotzeit kam. Später waren ihm die Grundkenntnisse von Mauerwerk und Putz sehr nützlich bei der Arbeit an den zahlreichen Fresken, die er geschaffen hat; so manchen Untergrund hat er eigenhändig mit der Kelle aufgezogen. Nach der Maurerlehre wandte er sich der Dekorationsmalerei zu und eröffnete 1925 ein eigenes Geschäft. Nebenbei aber arbeitete er immer an seinen Bildern weiter. Als einmal der Maler Michael Licklederer vom Fenster seines Elternhaus ein Ansicht von Halfing malte und ihn zu seinem Ärger nicht zuschauen ließ, sagte er sich beim Anblick des fertigen Werkes „das kann ich auch" und malte sein Bild von Halfing. Von 1925 bis 1928 förderte der königliche Professor Gustav Eichhorn in Wasserburg den jungen Maler in Privatstunden und Martin Anzinger nannte ihn seinen väterlichen Freund. Ihm zeigte er auch sein erstes Porträt, das er 1924, neunzehnjährig, von seinem Vater gemalt hatte. Aufgrund dieser Darstellung prophezeite ihm Professor Eichhorn eine Karriere als außergewöhnlicher Porträtist. Als sein Schüler ihm nicht glauben wolle und meinte das ist doch nichts, sagte ihm der Professor, dass sein Vater auf einem Ohr schlecht höre und er dies unbewusst dargestellt habe. Als Martin seinen Vater darauf befragte bestätigte dieser, was die ganze Familie bis dahin nicht wusste. Professor Eichhorn regte ihn auch dazu an, sich von den kleinformatigen Bildern der ersten Zeit an größere zu wagen. Von 1930 an kam er zweimal im Jahr in der Kunstgalerie Rosenheim und auch im sogenannten Kunstfenster beim Gietl am Mittertor ausstellen. Martin Anzinger liebte aber auch die Musik und nahm vier Jahre Lehrstunden für Zither bei dem selben Lehrer im Endort, bei dem auch Rudi Knabl gelernt hat, und er beherrschte das Instrument später fast virtuos. Er schreibt auch eigene Zither-Kompositionen und verfasst eigene Gedichte; sein Leid ,,Ave Maria" mit Zitherbegleitung wurde in der Kirche von Halfing aufgeführt und viele schöne und romantische Gedichte zeugen auch von seiner lyrischen Ader. Mit seinem Freund Gottfried Fürbeck (2. Zither) und einigen Sängerinnen aus der Gemeinde wird Hausmusik gemacht, später spielt sein Sohn Lorenz die Gitarre dazu. Zu Gast im Haus ist oft der 1. Tenor der Berliner Staatsoper, Müller-Heldrich, der Geiger Bertl Zima aus Wien und aus Mönchen-Gladbach der erste Kammergeiger, später auch Eugen Jochum und Rotering vom Gärtnerplatztheater und auch Elisabeth Flickenschild ist manchmal Gast. 

1934 heiratet er Franziska Steffinger-Dobler, die mit ihrem natürlichen Kunstsinn viele seiner Bilder beeinflusst. Vorfahren ihrer Familie bekamen zu Rothenburg wegen besonderer Verdienste 1392 von Herzog Stefan von Bayern ein Wappen verliehen. Einer ihrer Onkel war der weltweit in der Jugenderziehung bekannte Abt von Zinnelarg. Zwei Söhne - Lorenz und Herbert - kamen aus dieser Ehe. Später suchte Martin Anzinger auch Professor Gerhardinger in Törwang auf mit seinen Skizzen und Zeichnungen und dieser riet ihm, er solle nicht mit Bleistift arbeiten, sondern mit Kohle und beriet ihn bei seinen figürlichen Studien. Als er Gerhardiger einmal fragte, was er von seinen Bildern halte, sagte dieser wörtlich: „Die Augen malen sie wunderbar''. 

Auf Empfehlung Gerhardingers und auf Drängen seiner Frau kommt Martin Anzinger 1940 zu Professor König nach München und nimmt an dessen Kunstschule „Oie Form" das Studium auf, um sich im Figürlichen zu vervollkommnen. Am ersten Tag kommt der neue Schüler in den Saal und als er in der hintersten Reihe einen der hohen Hocker besteigen will, fällt er zum Gaudium der ganzen Klasse mit all seinen Sachen polternd zu Boden. Wieder oben fängt er an zu zeichnen und als Professor König die Arbeit betrachtet, nimmt er die Zeichnung, zieht mit seinem Stift Linien durch das Gesicht und tritt damit beinahe aufgeregt vor die Klasse und schreit: „Da kommt einer vom Land und zeichnet in zwei Stunden den Mädchenkopf, an dem ihr schon zwei Wochen arbeitet, fehlerfrei; das habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt!" Professor König war es auch, der später zu seinen Schülern, die mit ihm in den Gassen Altschwabings zum Arbeiten unterwegs waren, sagte: „Die stürzende Perspektive beherrscht nur der Anzinger, da könnt ihr die Finger davon lassen!" In den vierziger Jahren malt er auch für den August Lengauer-Verlag Ansichten von München, die als Postkarten erscheinen. Wieder zu Hause schafft Martin Anzinger in den folgenden Jahren seine Charakterköpfe und zeigt in seinen Porträts eine Lebendigkeit, die selten von einem Künstler erreicht wird. Ebenso wie Leibl versteht er es die Seele seines Modells auf die Leinwand zu bannen, oft hat er ja dessen Werke im Glaspalast betrachtet und auch Spitzweg und Gerhardinger studiert. 

Er stellt 1942 - 1944 in der Kunstgalerie in Rosenheim aus und hat mit seinen Bildern „Helene" (Porträt der Frau des Schriftstellers Hans Ernst), „Chiemgaubauer in alter Trachf' und dem „Chiemgaumädel" großen Erfolg. Als er 1944 das Bild „Dorfbach mit Halfing" malt, wurde er dabei von einem englischen Tiefflieger beschlossen und muß sich in die Uferböschung ducken. 1947 schafft er sein größtes Werk, das Altarblatt in der Halfinger Kirche. Eine Gloriole mit vielen Putten, die sich in der Seite des Himmels verlieren, umschließt das Haupt der Madonna mit dem Kind und am Knie des seligen Simon Stock sitzt als Engel sein Sohn Herbert. Das Bild stellt die Verleihung des Skapuliers an den seligen Simon Stock dar. In der Folgezeit erhält Anzinger viele verantwortungsvolle Aufträge. 1950 zur 1200-JahrFeier der Stadt Füssen malt er sein erstes Fresko, den Allgäu-Apostel St. Magnus. Dazu hat er die Schrift des großen Malers Martin Knaller zur Freskomalerei studiert und in einer Holzkiste, angefüllt mit Ziegelsteinen, auf frischem Putz erste Versuche mit Freskofarben gemacht. 1951 schafft er sein großes Fresko ,,Auferstehung" an der Friedhofskapelle in Halfing und später im Giebel des Stöttnerhofes in Söchtenau das Sichelwunder der heiligen Notburga, das noch heute in seiner frischen Farbigkeit leuchtet wie am ersten Tag. An vielen Bauernhöfen und Häusern der nahen und weiteren Umgebung zeugen heute Fresken von seiner Schaffenskraft. Als 1948 die Kirche in Antwort bei Endorf renoviert wird, erhält Anzinger den Auftrag für die beiden Seitenaltäre neue Altarbilder zu malen. Rechts teilt Bruder Konrad von Parzham Essen an arme Kinder aus (wieder findet sich sein Sohn Herbert unter den Kindern), auf dem linken Altarbild stellt er die selige lrmgard von Frauenchiemsee dar, knieend in einer Halle mit Blick auf den Münsterturm, während Engel in einer Wolke über ihr musizieren. Dieses Bild gefällt dem Münchner Kardinal Josef Wendel so sehr, dass er den Maler in seinem Atelier aufsucht und Porträts seiner Eltern in Auftrag gibt. Zuerst entsteht das Bild des Vaters nach einer Fotographie und dann das der Mutter nach Sitzung. Anzinger wohnte während dieser Zeit in den Privatgemächern des Kardinals und als er mit ihm frühstückte sagte er: „Eminenz, ich will nach der Bibel handeln" und auf den erstaunten Blick des Kardinals „alle Berge müssen abgetragen werden" und nahm sich ein Stück Kuchen. Kardinal Wendel ist von den Bildern so begeistert, dass er ihm einen nagelneuen Zwanzigmarkschein aus seinem Portmonaie als Trinkgeld auf das Honorar legt und ihm seine Tasche bis auf die Straße trägt, was nach Aussage des Sekretärs Defregger noch nie vorgekommen war. Es sollte auch ein großes Porträt Kardinal Wandels folgen, doch das verhinderte dessen plötzlicher Tod. Als Anzingers Ruhm sich ausbreitete, dehnte sich auch das Gebiet seines Wirkens aus. Sehr viele Restaurierungen werden ihm übertragen, so das Altarbilder in der Kirche von Vachendorf bei Traunstein, das fürchterlich aussah und bei dem ganze Köpfe der Apostel fehlten. Das Hochaltarbild und eine Himmelfahrt Mariens mit einem großen Loch in der Leinwand in erzbischöflichen Studienseminar in Traunstein, das Josefsbild im Seminar zu Salzburg, Hochaltarbild und Kreuzweg in der Kirche in Gutersberg bei Hilfing und Restaurierungen in der Kirche von Holzhausen bei Teisendorf um nur einige zu nennen. Dort lernt er auch Professor Georgii, den Hildebrandschüler, kennen und der nennt ihn seinen Freund. Georgii möchte mit ihm zusammen eine Kirche in Innsbruck gestalten, doch Anzinger wollte nicht so lange gebunden sein. In Hohendiching malt er ein großes Deckengemälde, die Kreuzigung des heiligen Andreas. Oft kam er auch nach Eichstätt und malte die Stadt mit ihren alten Gassen und die Porträts vieler Eichstätter Bürger. Er malt ein großes Porträt des Baron Krafft von Crailsheim auf Schloss Amerang und erhält von der Stadt Wasserburg den Auftrag Bürgermeister Gabriel Neumeier für die Bürgermeistergalerie des großen Sitzungssaales im Rathaus zu malen. Aber immer wieder malt er Landschaften seiner Heimat, den Chiemsee mit der Fraueninsel, den Simssee, große Blumenbilder und seine Lieblingsmotive: Bauern- und Charakterköpfe. In Rohrdorf malt er in einem Jagdsaal die Kasettendecke mit Jagdmotiven aus, auf dem Fechteck schmückt er eine Jagdhütte mit Fresken und malt auch Bühnenbilder für die Theatervereine in Halfing und Feldkirchen-Westerham. Diese Vielseitigkeit wurde wohl von kenem Maler seiner Zeit erreicht. Ausstellungen auf Schloss Amerang, im Kunstschloss Heimhausen, in der Sparkasse von Rosenheim und im Haus der Kunst bei der königlich privilegierten Künstlergenossenschaft in München bringen ihm große Bewunderung und Anerkennung. Sein Bild „Höll Mühle" wird in den Katalog aufgenommen. Zwei Landschaftsbilder befinden sich in der Sammlung Schäfer (Kugelfischer Schweinfurt). Am 2. August 1987 reißt ihn ein plötzlicher Tod im Alter von 82 Jahren aus einem erfüllten Leben. Nach seinem Tod erhält sein Bild „Altes Bauernhaus" bei der Ausstellung im Bauernhausmuseum von Amerang den ersten Publikumspreis. 1992 zeigt eine viel beachtete Ausstellung zum 5. Todestag in Seebruck 60 Werke von Martin Anzinger. 

(Lorenz Anzinger, anlässlich der Ausstellung Ausstellung vom 7. -15. Oktober 2000 im Haus des Gastes in Gstadt am Chiemsee)